“Warenwirtschaftssysteme werden immer wichtiger”

In vielen kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) könnten die Geschäftsprozesse im Bereich der Warenwirtschaft runder laufen – wenn geeignetere Software eingesetzt würde. Experte Jörg Becker erläutert, wo die Defizite liegen und weshalb ein reibungslos funktionierendes Warenwirtschaftssystem unerlässlich ist.

Frage: Vor allem in kleinen und mittleren Unternehmen läuft es im Bereich der Warenwirtschaft teilweise nicht optimal. Mal gibt es Probleme bei der Bestandsführung, in anderen Fällen mangelt es an Übersicht über das Sortiment. Woran liegt das?

Jörg Becker: Insbesondere kleine und mittelgroße Unternehmen nutzen häufig recht veraltete Warenwirtschaftssysteme, die wenig flexibel sind und sich nicht oder nur sehr schwer an sich verändernde Anforderungen anpassen lassen. Dazu kommt, dass Warenwirtschaftssysteme häufig nicht optimal genutzt werden, da die organisatorische Einbettung mängelbehaftet ist, da in den Fachabteilungen nur ungenügende Kenntnisse des Warenwirtschaftssystems vorhanden sind, da das interne IT-Know-how zu wünschen übrig lässt und die Systeme nicht gut eingestellt sind, da Datenredundanzen und Dateninkonsistenzen vorliegen und die Prozesse nur unzureichend unterstützt werden. Ein weiteres Defizit auf der organisatorischen Ebene: Warenwirtschaftssysteme werden noch nicht überall als strategischer Wettbewerbsfaktor erkannt.

Jörg Becker
Prof. Dr. Jörg Becker ist Direktor des Instituts für Wirtschaftsinformatik der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster sowie Hauptgesellschafter des Beratungsunternehmens Prof. Becker GmbH. Des Weiteren ist er geschäftsführender Direktor des European Research Center for Information Systems (ERCIS), eines von der nordrhein-westfälischen Landesregierung initiierten Forschungsverbundes von 20 meist europäischen Wirtschaftsinformatik-Forschungsinstitutionen. Zu Prof. Beckers Forschungsschwerpunkten zählen Handelsinformationssysteme, Prozessmanagement und Referenzmodellierung.
Weitere Informationen auf der Website der Uni Münster

Frage: In welchen Funktionsbereichen der Warenwirtschaft ist der Bedarf an Modernisierung der IT besonders groß?

Jörg Becker: Nach wie vor gibt es viel Potenzial in der Optimierung des elektronischen Datenaustausches EDI, insbesondere auch bezogen auf die Verzahnung innerhalb von Marktplätzen. Die heute noch anzutreffende manuelle Erfassung, zum Beispiel bei der Artikelanlage, muss unbedingt auf EDI umgestellt werden. Integration ist überhaupt ein großes Thema. Ich nenne nur mal die Integration der Kassen in die zentralen Warenwirtschaftssysteme, die Integration zwischen der klassischen Warenwirtschaft und dem Online-Shop oder die Integration der operativen Systeme und der Analyse- und Auswertungssysteme, heute häufig Business Intelligence genannt. Und ich meine in diesem Zusammenhang: Integration – und nicht Schnittstellen. Außerdem liegt gerade bei KMU vielfach noch deutliches Potenzial in der Automatisierung von Bestellungen, um die berühmte Never-out-of-stock-Situation zu erreichen (abgekürzt: NOS, englisch für “Ständig verfügbar” oder “Artikel immer am Lager”; die Red.). Auch die Vertriebsunterstützung kann in Richtung auf ein effizientes Customer-Relationship-Management (CRM) verbessert werden, um zum Beispiel die Möglichkeiten eines selektiven Marketings ausschöpfen zu können.

 

 

“Warenwirtschaftssysteme werden noch nicht überall als strategischer Wettbewerbsfaktor erkannt.”

 

Frage: Die Warenwirtschaft gilt als das Rückgrat des Unternehmens. Eine neue Software für diesen Bereich einzuführen ist somit wie eine Operation am offenen Herzen. Wie hoch schätzen Sie das Risiko von Komplikationen ein?

Jörg Becker: Die Entwicklung von Software und die Einführungsprozesse sind in den vergangenen Jahren deutlich professionalisiert worden. Die strikte Trennung von Entwicklungssystem, Testsystem und Produktivsystem, ausgereifte Tools für die Einführung von Software oder für das Testen, die Professionalisierung des Projektmanagements bei der Softwareumstellung – all das hat dazu beigetragen, dass die von Ihnen so formulierte “Operation am offenen Herzen” in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle erfolgreich verläuft. Die potenziellen Risiken sind insofern gut beherrschbar, solange die Operation fachgerecht durchgeführt wird.

 

“Wir bekennen uns ganz klar zu Standardsoftware. Es gibt gute Standardsysteme am Markt, die eine individuelle Lösung obsolet machen.”

 

Frage: Wie sollte eine KMU-taugliche Warenwirtschaftssoftware beschaffen sein?

Jörg Becker: Bei der funktionalen Abdeckung kann man sich am Handels-H-Modell orientieren. Die wesentlichen Prozesse des Handels sind dabei als Referenzmodell aufgeführt, so dass man eine gute Orientierung hat und bei der Softwareeinführung keine wesentliche Funktion vergisst. Häufig wird die Frage gestellt, ob eine Standardsoftware oder eine Eigenentwicklung vorzuziehen ist. Wir bekennen uns hier ganz klar zu Standardsoftware. Es gibt gute Standardsysteme am Markt, die eine individuelle Lösung obsolet machen. Zwar gibt es bei jedem Handelsunternehmen einige Spezifika, die Anpassungen bzw. Erweiterungen des Standards erfordern, aber diese zu realisieren ist immer noch günstiger als Individualsoftware – insbesondere wenn man den Total-Cost-of-Ownership-Ansatz wählt (Abrechnungsverfahren, das Unternehmen hilft, alle anfallenden Kosten von Investitionsgütern, wie beispielsweise Software, abzuschätzen; die Red.). Wichtig ist, ob der Anbieter des Warenwirtschaftssystems in der Lage ist, Spezialanforderungen gut umzusetzen. Am besten ist es natürlich, wenn Spezialanforderungen Aufnahme in den Standard finden. Dies entspräche dem Single-Source-Ansatz, das heißt, alle benötigten Funktionen werden in einer einheitlichen Lösung realisiert.

 

“Das Warenwirtschaftssystem ist die zentrale IT-technische Basis, ohne die alle Prozesse im Handel nicht effizient funktionieren.”

 

Frage: Inwieweit unterscheiden sich die Anforderungen an Warenwirtschaftssysteme je nach Branche und Größe des Anwenderunternehmens?

Jörg Becker: In den Branchen gibt es deutliche Unterschiede nach den Sortimenten. Ein Lebensmittelhändler hat grundverschieden andere Anforderungen als ein Mode-/Textilhändler oder ein Händler, der technische Produkte vertreibt. Sowohl die Stammdaten wie Mindesthaltbarkeitsdatum, Seriennummern, Farb-Größen-Matrix als auch die Prozesse werden von den unterschiedliche Sortimenten massiv beeinflusst. Zudem existieren Standards bezüglich Schnittstellen/EDI, die von der Branche abhängig sind, wie H2-Daten in der Schuhbranche oder ELDANORM/DATANORM im technischen Handel.

Frage: Werfen wir einen Blick in die nähere Zukunft: Wie wird sich die fortschreitende Digitalisierung der Geschäftswelt auf die Bedeutung und den Einsatz von Warenwirtschaftssystemen auswirken?

Jörg Becker: Insbesondere die Anforderungen des Omni-Channel-Vertriebs und Cross-Channel-Vertriebs erhöhen die Komplexität im Handel dramatisch. Der Kunde entscheidet sich in jeder Phase des Kaufprozesses unabhängig von den anderen Phasen, welchen Kanal er wählt. Dies gilt zum Beispiel für die Informations-, Kauf-, Logistik-, Bezahl- oder Rückgabephase. Differenziertere Kundenbedürfnisse erfordern schnellere Veränderungen von Handelsleistungen und -prozessen. Das Warenwirtschaftssystem, vollständig integriert mit der Shop-Lösung und dem Analyse- und Auswertungssystem, ist die zentrale IT-technische Basis, ohne die alle Prozesse im Handel nicht effizient funktionieren. Insofern wird das Warenwirtschaftssystem immer wichtiger, um Komplexität zu beherrschen und vor allem um auf neue und sich verändernde Anforderungen schnell reagieren zu können.

Bildquelle: Dimitry Kalinovsky/Shutterstock.com (oben), privat (Porträt)

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