Barrierefreie Software

Barrierefreie Software – worauf es bei Lösungen für Blinde und Sehbehinderte ankommt

Menschen mit Handicap in die Arbeitswelt zu integrieren, ist ein zentrales Anliegen der Politik. Bislang mangelt es jedoch – trotz voranschreitender Digitalisierung – oft an geeigneten IT-Lösungen. Ohne barrierefreie Software bleibt Inklusion aber eine Illusion. Dieser Beitrag erläutert, wie Software beschaffen sein muss, damit auch blinde und sehbehinderte Menschen mit ihr arbeiten können.

Digitalisierung ist weltweit eines der Kernthemen in Unternehmen. Sie soll mehr Einfachheit und Schnelligkeit, aber auch mehr Kontrolle in die betrieblichen Prozesse und den Arbeitsalltag bringen. Die Folgen der aktuellen Coronakrise tun ihr Übriges, den digitalen Wandel zu befeuern. Denn plötzlich sind Homeoffice und andere Formen des kontaktfreien Arbeitens in vielen Unternehmen an der Tagesordnung. Durch Digitalisierung entstehen auch für blinde und sehbehinderte Beschäftigte neue Möglichkeiten des Arbeitens, etwa im Bereich der Finanzbuchhaltung. Es mangelt jedoch an geeigneten Lösungen. Im Folgenden wird erklärt, was digitale Barrierefreiheit genau bedeutet und welche Eigenschaften eine barrierefreie Software aufweisen muss.
 
Um die Gründe für eine digitale Barrierefreiheit nachvollziehen zu können, muss man jedoch zunächst das Herzstück der Barrierefreiheit verstehen: Inklusion. Denn Barrierefreiheit gelingt erst durch Inklusion.

Was bedeutet Inklusion?

Kerngedanke der Inklusion ist die Teilhabe jedes Menschen an der Gesellschaft. Und zwar soll jedes Individuum mit all seinen Eigenschaften uneingeschränkt und gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Insofern ist Inklusion nicht nur das Leitmotiv für die Barrierefreiheit, sondern sie gibt hierfür auch die wesentlichen Ziele bzw. Voraussetzungen vor.

Was ist unter “digitaler Barrierefreiheit” zu verstehen?

Der Begriff der digitalen Barrierefreiheit ist insbesondere im Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (BGG) sowie in weiteren Rechtsnormen des Sozialgesetzbuches (SGB) geregelt. Dem BGG zufolge ist „digitale Barrierefreiheit“ dann gegeben, wenn für Menschen mit Behinderungen bei der Bedienung von Webseiten, Programmen oder Betriebssystemen keine Hindernisse und keine Barrieren auftreten.

Betrachten wir zum Beispiel Buchhaltungssoftware. Diese enthält üblicherweise zahlreiche grafische Komponenten wie Texte und Buttons, mit denen sehbehinderte und blinde Menschen nicht arbeiten können. Der Grund: Sie nehmen die grafischen Details auf dem Bildschirm ohne weitere Hilfe kaum bzw. gar nicht wahr.

Digitale Barrierefreiheit einer Software bedeutet, dass jeder Mensch die Funktionen der Anwendung ohne zusätzliche Programme und Hilfen nutzen kann.

Erfüllt eine Anwendung teilweise die Anforderungen an Barrierefreiheit, spricht man von barrierearmer Software.

Übergeordnetes Ziel von digitaler Barrierefreiheit

Ein wesentliches Ziel von digitaler Barrierefreiheit ist es, Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen zu beseitigen und ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen.

Welche Eigenschaften muss barrierefreie Software aufweisen?

Grundlage für eine barrierefreie Software ist die Einhaltung bestimmter Gestaltungsprinzipien. Von entscheidender Bedeutung ist hier die deutsche Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0). Sie basiert auf den internationalen Web Content Accessibility Guidelines (WCAG), die vom World Wide Web Consortium (W3C), einer Vereinigung von mehr als 350 Vertretern der Softwareindustrie, aufgestellt worden sind. Die WCAG 2.0 geben die wesentlichen Richtlinien zur Barrierefreiheit von Webinhalten vor, sie können aber ebenso für andere technische Umgebungen angewandt werden, wie zum Beispiel eine barrierefreie Software-Entwicklung.

Barrierefreie Software basiert auf vier essenziellen Gestaltungsprinzipien, die in den WCAG 2.0 verankert sind: Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit.

  1. Wahrnehmbarkeit – Zur barrierefreien Wahrnehmung der Benutzeroberfläche einer Software müssen sowohl die Bestandteile als auch die Informationen bei den Kontaktpunkten mit dem Benutzer unabhängig von dessen Fähigkeiten ausgestaltet sein.
     
    Eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Wahrnehmbarkeit einer Software ist die Screenreadertauglichkeit. Zur Unterstützung der Wahrnehmbarkeit einer Software bzw. der dargestellten Bestandteile und Informationen werden meist sogenannte Screenreader herangezogen, die einem sehbehinderten Benutzer die grafische Darstellung auf dem Bildschirm in akustische Form “übersetzen”. Hierfür benötigen Screenreader eine Audio-Beschreibung, sprich: inhaltlich passende Alternativtexte. So wird zum Beispiel zu jedem Bild eine textliche Beschreibung des Dargestellten hinterlegt, die der Screenreader an den Benutzer akustisch weitergibt.
     
    Zudem sollte die Software auch Einstellungsmöglichkeiten für Schriftgrößen, Kontraste und Farben ermöglichen, damit Sehbehinderte mit stark eingeschränktem Sichtfeld die Benutzeroberfläche zumindest rudimentär erkennen können.
  2. Bedienbarkeit – Im Arbeitsalltag mit einem PC ist es gang und gäbe, mit einer Computermaus durch die digitalen Oberflächen zu navigieren und mit einer Tastatur beispielsweise Text einzugeben. Jedoch ist vor allem die Maus für sehbehinderte Benutzer kein geeignetes Werkzeug, da diese den Cursor auf dem Bildschirm nicht erkennen. Aus diesem Grund müssen Benutzeroberflächen unabhängig von der Sehfähigkeit des Anwenders und vom verwendeten Gerät bedienbar sein.
     
    Hinzu kommt, dass sich eine barrierefreie Software auch unabhängig von assistiver Technologie bedienen lassen muss. Die Tastatur ist dagegen – anders als die Computermaus – eines der wichtigsten Werkzeuge für Sehbehinderte. Denn vor allem mit der Tabulatortaste und den Pfeiltasten können sie durch die Benutzeroberfläche navigieren. Dies setzt natürlich voraus, dass die Software mittels Tastatur bedient werden kann.
  3. Verständlichkeit – Benutzer ohne Sehbehinderung können die Struktur und Logik einer Software durch Sehen und Klicken verstehen und nachvollziehen. Ein sehbehinderter Anwender hingegen erschließt sich die logischen Strukturen einer Software mittels des Navigierens über die Tastatur. Deswegen haben nach dem Prinzip der Verständlichkeit die Inhalte sowie die Bedienung einer Benutzeroberfläche so ausgearbeitet zu sein, dass sie für jeden Nutzer gut zu verstehen sind. Wichtig ist dabei, dass die Strukturen das mentale Vorstellungsvermögen nicht überfordern.
  4. Robustheit – Wie bei allen technischen Geräten und Anwendungen ist eine der wichtigsten Voraussetzungen problemlosen Arbeitens, dass alle Geräte miteinander kompatibel sind. Sämtliche Komponenten einer Software müssen daher technisch robust sein. Nur dann können sie sowohl in Verbindung mit heutigen als auch mit künftigen Geräten und assistierenden Technologien ohne Probleme und Hindernisse verwendet werden.

Warum ist es sinnvoll, auf barrierefreie oder zumindest barrierearme Lösungen zu setzen?

Das wichtigste Argument für die Entwicklung und den Einsatz barrierefreier Software lautet: Inklusion. Unsere Rechtsordnung garantiert jedem Menschen das Recht, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Für Sehbehinderte oder Blinde bedeutet das unter anderem, dass ihnen in ihrem Arbeitsalltag barrierefreie oder wenigstens barrierearme IT-Lösungen zur Verfügung stehen sollten.

Der Gesetzgeber hat sich dieses Themas in den vergangenen Jahren mehr und mehr angenommen. Weitere Regelungen und neue Vorschriften zur digitalen Barrierefreiheit dürften folgen. Davon betroffen sind sowohl die Softwarehersteller als auch die Anwenderunternehmen.

Es ist davon auszugehen, dass der Aspekt der Barrierefreiheit in der Entwicklung digitaler Lösungen an Bedeutung gewinnen wird.

Darüber hinaus bietet barrierefreie Software den Nutzern einen deutlichen Mehrwert gegenüber herkömmlichen Lösungen. Nehmen wir wieder den Bereich der Finanzbuchhaltung. Gerade hier kommt es entscheidend darauf an, dass eine Software einfaches, effizientes und problemloses Arbeiten ermöglicht. Ein barrierefreies Programm ist da klar im Vorteil, weil es aufgrund seiner Strukturiertheit logisch nachvollziehbarer und leichter bedienbar ist.

Zudem bietet barrierefreie Softare bessere individuelle Anpassungsmöglichkeiten hinsichtlich der Farben, Kontraste und Skalierbarkeit. Auch das erhöht das Effizienzpotenzial einer Software.
 

Projekt: Finanzbuchhaltungssoftware barrierefrei gestalten

Aus einer Kooperation zwischen der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg und dem Softwarehersteller HS – Hamburger Software entstand Anfang 2019 ein gemeinsames Projekt zum Thema: “Eine Finanzbuchhaltungssoftware barrierefrei gestalten”.

Im Rahmen dieser Projektarbeit untersuchten Pascal Walter und die Autorin dieses Blogbeitrags, beide Studierende im Studiengang Technische Betriebswirtschaftslehre / Marketing an der HAW Hamburg, inwieweit die Anwendung HS Finanzbuchhaltung die Anforderungen an eine barrierefreie Software erfüllt. Anlass für die Untersuchung war die Anfrage eines HS Kunden, der eine barrierefreie Software für die kaufmännische Ausbildung sehbehinderter und blinder Menschen im Bereich der Finanzbuchhaltung sucht. Betreut wurde das Projekt vom Wirtschaftsinformatiker Professor Rüdiger Weißbach, ebenfalls HAW Hamburg.

Die Analyse ergab, dass sich die Finanzbuchhaltungssoftware von HS zwar teilweise mithilfe der Tastatur und eines Screenreaders bedienen lässt. Dennoch ist sie – wie andere auf dem Markt erhältliche Finanzbuchhaltungsprogramme – gegenwärtig nicht barrierefrei.

Im Rahmen ihres Kooperationsprojekts erarbeiteten die Hochschule und HS eine Reihe von Optimierungsmöglichkeiten, die der Softwarehersteller nun auf ihre Umsetzbarkeit hin prüft.


 

Maria Schmidt
Autorin dieses Beitrags
Maria Schmidt studiert an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW Hamburg) Technische Betriebswirtschaftslehre / Marketing. Sie absolviert zurzeit ein Praxissemester bei HS – Hamburger Software.

Bildquellen: zlikovec – stock.adobe.com (Beitragsbild oben), HS – Hamburger Software (Porträt)