Digitale Transformation in der Praxis – wie ein Softwarehersteller den Wandel angeht
Die digitale Transformation erfordert Veränderungen im eigenen Unternehmen – das ist den meisten Mittelständlern klar. Weniger klar ist vielen, wie sie in den Change-Prozess einsteigen und dabei ihre Mitarbeiter mitnehmen können. Der Blick auf andere Firmen kann da hilfreich sein. Hier der Erfahrungsbericht eines mittelständischen ERP-Softwareherstellers.
Digitalisierung, Disruption, Change – diese Schlagworte beschreiben die Situation, in der viele Unternehmen sich gegenwärtig befinden. Bei den meisten ist das Bewusstsein, “etwas verändern zu müssen”, vorhanden. Häufig fehlt jedoch ein konkreter Ansatzpunkt, um den Prozess zu beginnen. Die Aufgabe digitale Transformation erscheint übergroß, und die Angst vor Veränderungen übersteigt die damit verbundenen Chancen. Zudem lässt das Tagesgeschäft oft keinen Raum für strategische Überlegungen.
So ähnlich stellte sich die Situation vor einiger Zeit auch beim ERP-Softwarehersteller HS – Hamburger Software (HS) dar. Doch mittlerweile hat sich das Unternehmen auf den mühsamen Weg des Change begeben. Dieser Blogbeitrag beschreibt, wie die Verantwortlichen vorgegangen sind und welche Erfahrungen sie gemacht haben.
Ausgangssituation: Viel Erfahrung, aber (noch) keine stringente Digitalisierungsstrategie
HS ist seit 40 Jahren am Markt und gehört in der Zielgruppe kleine und mittlere Unternehmen (KMU) in Deutschland und Österreich zu den führenden ERP-Softwareherstellern. Mit 175 Mitarbeitern stellt das Softwarehaus standardisierte Anwendungen für Finanzbuchhaltung, Warenwirtschaft, Lohnabrechnung, Personalmanagement und Dokumentenmanagement her. Darüber hinaus versorgt es die Anwender mit individuellen Zusatzlösungen.
Will HS seine Marktposition behaupten, muss es den Produkt- und Leistungsumfang, die Marktbearbeitung und die internen Prozesse an die Rahmenbedingungen der Digitalisierung anpassen – so die einhellige Auffassung der Führungsmannschaft des Softwareherstellers.
Festlegung von Vision und Leitbild
Nach dem Motto “Wer sein Ziel nicht kennt, wird den Weg dorthin nicht finden” definierte die Unternehmensleitung von HS gemeinsam mit allen Mitarbeitern eine Vision und ein Leitbild. Diese beschreiben, wo HS in zehn Jahren stehen wird und mit welchen Werten, Selbstverständnis und Verhalten die gesteckten Ziele realisiert werden sollen. Das Ergebnis las sich zwar gut – aber wie soll der Weg dorthin konkret aussehen? Eine strategische Neuausrichtung sollte darauf die Antwort geben.
Strategische Neuausrichtung
Auch bei der strategischen Neuausrichtung des Unternehmens bezog die Führung die Belegschaft mit ein. In einem Mitarbeiterworkshop wurden die relevanten strategischen Handlungsfelder definiert und eine große Zahl von Ideen, Projekten und Maßnahmen dazu generiert. Daraus entstand schließlich die im Februar 2019 verabschiedete HS Strategie 2021. Sie weist dem Hersteller für einen Zeitraum von zunächst drei Jahren den Weg. Hierzu bricht sie die Vision und das Leitbild in konkrete Projekte und Maßnahmen herunter.
Erfahrungen mit der Entwicklung und Umsetzung der Strategie
Im Laufe der rund sechsmonatigen Phase der Strategieentwicklung sammelten alle Beteiligten bei HS wertvolle Erfahrungen, die immer wieder in den Strategieprozess einflossen und einfließen. Die wichtigsten Erkenntnisse daraus stehen sich häufig in Form von vermeintlichen oder tatsächlichen Widersprüchen gegenüber. Die Aufgabe des Managements besteht darin, diese Widersprüche zu erkennen, zu erklären und idealerweise aufzulösen. Ausgewählte Spannungsfelder sind:
- Breite Beteiligung vs. effizienter Prozessverlauf
Nur eine möglichst breite Beteiligung vieler Mitarbeiter sichert die Identifikation mit der strategischen Planung und deren Umsetzung. Dabei sind Mitarbeiter, die sich freiwillig für ein neues Team bzw. eine neue Aufgabe melden, in der Regel engagierter bei der Sache. Auch lässt sich so das eine oder andere bisher nicht erkannte Talent entdecken. Gleichzeitig kann ein umfassender Beteiligungsprozess eine zeitgerechte Entwicklung und Umsetzung der Strategie behindern. Es gilt also, das richtige Maß an Partizipation, am Einsatz wichtiger Multiplikatoren und an zielgerichteter Kommunikation zu finden.
- Geschwindigkeit vs. Nachhaltigkeit
Ein strategischer Veränderungsprozess greift tief in die Organisation und die Abläufe ein. Veränderungen finden aber nur dann tatsächlich statt, wenn die Menschen den Sinn der Neuausrichtung verstehen und ihn sich im besten Fall zu eigen machen. Allerdings fällt es manchmal schwer, die eigene Komfortzone zu verlassen. Es gibt – erst recht bei dem neuen Thema digitale Transformation – Ängste und Vorbehalte. Diese zu überwinden braucht es Zeit, viel Kommunikation und Transparenz. Über Leuchtturmprojekte und erste Erfolge lassen sich positive Erfahrungen sammeln, aus denen man Kraft für weitere Veränderungen schöpfen kann. - Strategische Maßnahmen vs. notwendiges Tagesgeschäft
Nicht alle Mitarbeiter können und sollen gleichzeitig an den strategischen Projekten und Maßnahmen zur Digitalisierung arbeiten. Auch das bisherige “Brot-und-Butter-Geschäft” muss weitergehen, denn es stellt die Unternehmenssubstanz dar. Es können ja auch nicht alle Prozesse auf einmal angefasst werden, weil dies die Organisation überfordern würde. Es ist Managementaufgabe, die Bedeutung des Tagesgeschäftes für den Erfolg des Unternehmens herauszustellen, und gleichzeitig die notwendigen Ressourcen für den strategischen Veränderungsprozess bereitzustellen. - Großer Wurf vs. konkrete Maßnahmen
Zu Recht wird mit einer strategischen Neuausrichtung die Erwartung verbunden, dass das Big Picture erkennbar, gegebenenfalls sogar radikal neu ist. Solche einfachen Botschaften erleichtern dann auch die interne und externe Kommunikation. Auf der anderen Seite kann die Strategie nur durch möglichst konkrete Maßnahmen beschrieben und vor allem umgesetzt werden. Ein Baustein muss zum anderen passen – und am Ende sind es viele Bausteine, die zum Erfolg beitragen. Zudem muss nicht jeder Prozess zur gleichen Zeit angepackt werden. Quick-Wins bei eher einfachen Umstellungen mit engagierten, freiwilligen First-Movern helfen dabei, schnell erste Erfolge zu erzielen, die andere dann auch motivieren. Beide Erwartungshaltungen – großer Wurf wie auch konkrete Maßnahmen – sind berechtigt und müssen vom Management bedient werden.
- Breite Beteiligung vs. effizienter Prozessverlauf
Fazit
Die Digitalisierung verlangt auch kleinen und mittleren Unternehmen Veränderungsbereitschaft ab. Ein One Size fits all wird es bei der Frage des richtigen Vorgehens zur Entwicklung und Umsetzung einer strategischen Neuausrichtung aber nicht geben. Jedes Unternehmen wird sich vor dem Hintergrund seiner Marktposition individuell überlegen müssen, in welchem Umfang das bisherige Vorgehen und die bestehende Produktpalette im Hinblick auf die digitale Transformation auf den Prüfstand zu stellen sind.
Unabhängig davon wird ein Change-Prozess nur dann gelingen, wenn die Beteiligungs- und Kommunikationsprozesse gut organisiert sind, die Umsetzung der Strategie in konkrete Maßnahmen sichergestellt ist und fortlaufendes Controlling sowie eine flexible Anpassung der Strategie möglich sind.
Ulrich Brehmer ist Geschäftsführer von HS – Hamburger Software.
Bildquellen: Coloures-Pic – stock.adobe.com (Beitragsbild oben), HS – Hamburger Software (Porträt)
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